Warum Bildungsinstitutionen von christlichen Gruppen profitieren können

Die religiöse Neutralität des Staates zeigt sich darin, dass er den verschiedensten Glaubensüberzeugungen unparteiisch Raum lässt. So können christliche Gruppen an Mittelschulen und Hochschulen zur Bereicherung der Bildung beitragen.

Der Glaube darf an Hochschulen oder Mittelschulen genauso gelebt werden wie im sonstigen öffentlichen Raum. Grundlage dafür ist Artikel 15 der Bundesverfassung. Mit den Bestimmungen über die «Glaubens- und Gewissensfreiheit» garantiert die Eidgenossenschaft eine freie Religionsausübung: Jede Person hat die Freiheit, eine Religion zu wählen und sie ungehindert in verschiedenen Formen auszuüben. Dazu gehört, den Glauben alleine oder in Gemeinschaft mit anderen zu leben, etwa durch gemeinsames Gebet, Gottesdienste oder andere Formen von religiösen und gemeinschaftlichen Anlässen. Die Ausübung der Glaubensfreiheit stösst dort an Grenzen, wo gegen Normen des Strafrechts verstossen oder die demokratische Grundordnung der Schweiz in Frage gestellt wird.

Für religiöse Gruppen im schulischen oder universitären Kontext heisst das, dass Studierende, Schülerinnen und Schüler ihrem Glauben Ausdruck geben dürfen, indem sie beispielsweise öffentlich sichtbar beten oder religiös konnotierte Kleidung tragen. Religiös ausgerichtete Treffen mit Gleichgesinnten sind genauso erlaubt wie das Werben für den eigenen Glauben – solange alle Beteiligten die freiheitliche demokratische Rechtsordnung beachten.

Religiöse Unparteilichkeit

Aus Artikel 15 der Bundesverfassung wird auch die religiöse Neutralität des Staates abgeleitet. Bei diesem Begriff handelt es sich um eine Negativdefinition, die besagt, dass der Staat nicht zu Gunsten einer bestimmten Religionsgemeinschaft Partei ergreifen darf. Mit dieser Unparteilichkeit ist in keiner Weise eine areligiöse, laizistische Haltung des Staates gemeint. Der Staat soll Religion vielmehr als gesellschaftliche Realität betrachten und Raum für die verschiedensten Glaubensüberzeugungen schaffen.

Das Konzept der religiösen Neutralität sagt nicht aus, dass der Staat keine religiöse Prägung haben darf. Im Gegenteil: «Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative.» So schreibt Jürgen Habermas, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Philosophen.

Die Geschichte und die Kultur der Schweiz sind klar jüdisch-christlich geprägt. Davon zeugen nicht nur staatliche und zivilreligiöse Symbole, sondern auch die Praxis gesetzlicher Feiertage für christliche Feste und die kantonale Anerkennung der katholischen und reformierten Landeskirchen. In einem Orientierungspapier schreibt die Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich: «Die Kirchen und Religionsgemeinschaften sind wesentlich für die Gemeinschaft. Sie wirken an den Wertgrundlagen mit, die für das Gemeinwesen unerlässlich sind. Indem der Staat Kirchen und Religionsgemeinschaften als wesentlich anerkennt, macht er deutlich, dass er sich selbst nicht absolut setzt und sich seiner Grenzen bewusst ist. Der Staat lebt von geistigen und ethischen Voraussetzungen, die er selbst weder schaffen noch garantieren kann.»

Bildungseinrichtungen verletzen Neutralität

Wenn in den letzten Jahren Schulleitungen und Rektorate verschiedenen VBG-Gruppen die Nutzung von Räumen oder das Durchführen von Veranstaltungen verboten haben, so ist das sowohl aus verfassungsrechtlicher Sicht als auch aus staatlicher Praxis falsch. Es ist schon fast ironisch, dass diese Verbote meist mit einem Verweis auf die religiöse Neutralität staatlicher Einrichtungen erfolgten. Tatsächlich verletzen Bildungseinrichtungen ihre Neutralität, wenn sie ausserschulische Aktivitäten aller Art fördern, aber Angebote mit religiöser Konnotation explizit ausschliessen.

Diese Sicht vertritt auch Hans Michael Heinig, Professor für Öffentliches Recht und Staatskirchenrecht an der Universität Göttingen. Das Gebot der Unparteilichkeit sei dann berührt, «wenn studentische Aktivitäten jeglicher Art Unterstützung finden, vom Sport über Musizieren bis Politisieren, nur das religiös-weltanschauliche Engagement nicht.» Dies sei eine Zuwiderhandlung: «Denn dann orientiert sich die Förderpraxis gerade nicht am Grundsatz der Gleichbehandlung.»

Ausschlaggebend für diese Argumentation ist die philosophische Einsicht, dass eine religiöse Weltsicht in die gleiche Kategorie gehört wie eine areligiöse. Alle Lebensentwürfe und Weltanschauungen basieren auf gewissen Grundannahmen, die per Definition nicht beweisbar sind. Dies gilt auch für die säkulare, szientistische Extremposition. «Wahr ist, was sich empirisch nachweisen lässt» – dieser Satz lässt sich nicht beweisen, schon gar nicht empirisch.

Christliche Wurzeln der Wissenschaft

Allerdings kann die Wissenschaft im Wettbewerb der Religionen und Weltanschauungen durchaus zur Klärung beitragen. Nicht alle Denkweisen und Religionen vertragen sich in gleichem Masse mit der Wissenschaft. So ist es auch kein Zufall, dass die modernen Naturwissenschaften in einer jüdisch-christlich geprägten Kultur entstanden sind. «Weil die Menschen an einen Gesetzgeber glaubten, erwarteten sie Gesetzmässigkeiten in der Natur», schreibt der Wissenschaftstheoretiker Alfred North Whitehead. Die aufgeschlossene Haltung gegenüber Reflexion und wissenschaftlicher Forschung ist tief im christlichen Glauben verankert. Jesus ermahnt seine Nachfolgerinnen und Nachfolger verschiedentlich dazu, Gegebenheiten zu hinterfragen und nach einem tieferen Verständnis zu streben. Die Psalmen und das Buch Hiob sind erfüllt vom Staunen über die Natur und ihre Zusammenhänge – und beseelt vom Wunsch, sie tiefer zu ergründen. Ein eigentlicher Forschungsauftrag findet sich gleich zu Beginn der Bibel, wo der Mensch von Gott angehalten wird, die Tiere zu betrachten und zu benennen: «Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte sein Name sein» (1. Mose 2,19).

Wissenschaft und Glaube müssen sich also keineswegs ausschliessen. Dies hat auch Max Planck, einer der ganz grossen Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, sehr deutlich auf den Punkt gebracht: «Zwischen Religion und Naturwissenschaft finden wir nirgends einen Widerspruch. Sie schliessen sich nicht aus, wie heutzutage manche glauben und fürchten, sondern sie ergänzen und bedingen einander.» Die beiden Felder wirken also ergänzend: Die Wissenschaft sucht nach der Funktionsweise der Dinge, während der Glaube Antworten auf die Frage nach Sinn, Wert oder Bedeutung sucht.

Christliche Gruppen, welche die aktive Auseinandersetzung mit weltanschaulichen und wissenschaftlichen Fragen fördern – wie dies in der VBG geschieht –, leisten einen wichtigen Beitrag zum sozialen Miteinander und zum wissenschaftlichen Diskurs an den Schulen und Hochschulen. Das passt auch zum Selbstverständnis und zur Verpflichtung der schweizerischen Bildungseinrichtungen. So heisst es beispielsweise in Artikel 5 des Maturitätsreglements: «Ziel der Maturitätsschulen ist es, Schülerinnen und Schülern im Hinblick auf ein lebenslanges Lernen grundlegende Kenntnisse zu vermitteln sowie ihre geistige Offenheit und die Fähigkeit zum selbständigen Urteilen zu fördern.»

Dazu ist ein offener Meinungsaustausch zentral, denn nur so können junge Menschen lernen, sich kritisch mit verschiedenen Inhalten auseinanderzusetzen und eine fundierte eigene Meinung zu bilden. Ein areligiöses und rein säkulares Weltbild klammert wesentliche Teile des Lebens und des Lernens aus und behindert so diesen Prozess. Geistige Offenheit kann dort wachsen, wo verschiedene weltanschauliche Positionen – auch explizit religiöse! – Platz haben und in die Diskussionen eingebracht werden.

Offenheit wächst, wo Glaube Platz hat

Mittelschulen und Hochschulen verstehen sich auch als Lebensräume, die mit vielfältigen Angeboten für Studierende, Schülerinnen und Schüler weit über den Auftrag der wissenschaftlichen Forschung und Lehre hinausgehen. Deshalb gibt es seit jeher schulische Orchester und Theatergruppen, Hochschulsport, politische und andere Interessensgruppen, sowie in neuerer Zeit auch Krisenhilfen und Beratungsstellen. Solche Angebote vermitteln Gemeinschaft und Identifikation, fördern eine ganzheitliche Entwicklung und wirken sich positiv auf die Motivation und Atmosphäre an Schulen und Hochschulen aus. Das gilt auch für religiös-weltanschauliche Interessen, Bedürfnisse und Aktivitäten. Die Schweizerischen Bildungseinrichtungen tun deshalb gut daran, diese zu berücksichtigen, ihnen Raum zu geben und sie zu fördern.

Ausgewählte Literatur: